Verhandlung unausweichlich

Kinästhesie als Kanal der künstlerischen Teilhabe - Warum der zeitgenössische Tanz nicht vor dem Publikum halt machen wird

Bei der Überlegung, wie algorithmische Komposition in die moderne Choreografie gehört, ist mir erstmals der Paradigmencharakter zweier Konzeptionen begreiflich geworden, dessenthalben die Arbeit von Medienkünstlern auf der Tanzbühne, auch meine eigene, bisweilen mit der choreografischen Arbeit zu fremdeln scheint.

Bei einem sehr erhellendes Gespräch mit dem Tänzer und Choreografen Dwayne Holliday geriet die Kinästhesie ins Zentrum einiger Betrachtungen über die Vermittlung von Tanz. Die Rolle des biologischen Bewegungssinnes spielt natürlich bei der Wahrnehmung eigentlich eine noch größere Rolle wie der Sehsinn - allerdings nur für den, der tanzt. Nichts schlägt die Unmittelbarkeit der Propriozeption. Was liegt da näher, als Mittanzen?

Durch eine Immersion der Tänzer als "Spuren" in einer audiovisuellen Choreografie interagieren diese zwar mit der Videoprojektion und mit der Klangsynthese. Dabei gehe ich aber bewusst von einer rein audiovisuellen Wahrnehmung des Gesamtkunstwerkes aus. Der Wunsch, das Erlebnis von Tanz auf eine physische Ebene jenseits von Mitfühlung zu heben, bleibt auf der Strecke.

Tanz als kommunizierte Kunstform muss sich immer mit aktuellen Fragen des Menschseins beschäftigen. Eine der großen gesellschaftlichen Herausforderungen war seit jeher der Umgang mit und die Entwicklung von Technik im Allgemeinen. (Wie sehr sich Technik und Kunst überlappen, zeigt schon die Etymologie: das griechische Wort Techne τέχνη bezeichnet neben den Handwerken genau die Künste.)
Gerade die Künste sind es nun, die den Fortschritt der Technik beschleunigen, indem sie darin produktiv sind, nicht nur die Möglichkeiten des Aktuellen auszukundschaften, sondern auch die Wünsche nach dem noch Unmöglichen - und die Ängste davor. So setzt sich auch der Tanz zunehmend mit den gesamtkulturellen Implikationen der ungezügelten technologischen Vereinnahmung des Menschen auseinander.

Die jüngsten Entwicklungen der Informationstechnologie, von drohendem Totalitarismus bei gleichzeitiger Entwicklung unserer globalen sozialen Organisation auf eine höhrere, informelle Stufe beschäftigen nicht nur mich, sondern auch die Choreografin Lea Pischke besonders. In den uns umrankenden Infrastrukturen entscheiden Algorithmen, was wir wahrnehmen. Wir fragen uns nach deren Abbildbarkeit in der Kunst auf einer sprachphilophischen Ebene. Wie artikulieren und wie organisieren sich menschliche Bedürfnisse in dem Code, den sie schreiben?

Im zeitgenössischen Tanz lässt sich - wie in anderen Künsten - eine Strömung ausmachen, die sich mit dem passiven Zuschauer nicht länger zufrieden gibt, sondern das Erlebnis des Kunstwerkes aus der Körperlosigkeit herauslösen will und das Publikum aktiveren, physisch teilnehmen lassen möchte. Der Choreograf greift zunehmend in die Sphäre des Publikums ein und möchte sie mitgestalten. Zunächst modifiziert, beschränkt, erweitert, artifiziert sie; doch eigentlich geht es ihm um die vollwertige Partizipation.

Andererseits verfolgen wir den bestehenden Ansatz, Code im Tanz mit den Mitteln der generativen Synthese zu visualisieren, hörbar zu machen, mit den Bewegungen der Tänzer zu verknüpfen. Die technische Augmentierung des Tanzes in Ton und Bild hält uns technisch und, wie wir gesehen haben, aesthetisch im Gesehen- und Gehörtwerden fest. Algorithmische Ansätze bei der partizipativen Choreografie können über eine physische Teilnahme beliebig großer Gruppen eine thematische Auseinandersetzung unausweichlich machen. Darüber hinaus bezeugt die Dokumentation eines solchen Ereignisses in erster Linie nicht eine Aufführung, sondern ein einmaliges und authentisches Gemeinschaftserlebnis. Dadurch wird unser Narrativ nochmals in der Rezeption illustriert, die erst nach dem Ereignis beginnt. In der modernen kommunikation des Geschehnisses wird das Kulthafte eines (gemensamen) Tanzes zum Narrativ, bei dem der Einfluss von Algorithmen im Wortsinne verhandelt wurde.

Melchior blausand Saturday 16 January 2016 at 12:33 am | | nicht euer bier
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